Der streitbare Weg zum Frieden
Shownotes
Streitkultur als Schlüssel zum Frieden
Frieden entsteht nicht ohne Streit. Kaltërina Latifi zeigt, dass Konsens nur durch Argumente, Disput und reflektierte Auseinandersetzung erreicht werden kann. In Zeiten wachsender Polarisierung erinnert sie daran, dass eine lebendige Demokratie vom produktiven Schlagabtausch lebt und dass die Unterdrückung von Differenzen nur Scheinfrieden schafft. Ein Plädoyer für die Kunst, Konflikte auszutragen, ohne den Zusammenhalt zu verlieren.
Transkript anzeigen
00:00:00: Der streitbare Weg zum Frieden.
00:00:02: Konsens und Disput als literarisches Thema.
00:00:07: Ein Bericht von Carlterena Latifi.
00:00:11: Wo keine Gerechtigkeit ist, da ist auch kein Friede.
00:00:15: Besagt ein deutsches Sprichwort.
00:00:18: Und wo kein Friede oder Konsens ist, so könne man für allgemeinand sagen, da muss wohl oder übel der Streit vorherrschen.
00:00:26: Was in unserer hochpolarisierten Zeit in Vergessenheit zu geraten scheint, die angestrebte Gerechtigkeit oder was jeder Einzelne für eine solche halten mag, wir können sie als Wertegemeinschaft nur durch das Streitgespräch, den argumentativen Schlagabtausch erlangen.
00:00:46: Frei nach Jürgen Habermas gesagt, Konsensfindung ist nur möglich, wenn man sich vorherstreitet.
00:00:54: Doch können wir heute denn noch produktiv streiten?
00:00:57: Wie steht es um die viel berufende Streitkultur wirklich?
00:01:02: Damit meine ich einen Streiten im Sinne einer reflektierten und um ein in Mode gekommenes Wort zu benutzen, konstruktiven Auseinandersetzung mit der Gegenseite, dem politischen Gegner, dem Kontrahenten, dem Andersdenkenden.
00:01:19: Ein niveauvoller Streit setzt eine tolerante Gesinnung der Streitenden voraus, Audiatur et altera pars.
00:01:28: Und er ist erlernbar.
00:01:30: Streitpädagogik wäre wohl gerade in unseren Zeiten nicht das nutzloseste aller Fächer.
00:01:38: Dazu gehört, dass man sich darin einübt, nicht nur aus der eigenen, sondern auch aus der Sicht des anderen zu argumentieren.
00:01:47: Dies könnte so manche neue Perspektive eröffnen.
00:01:51: Ist da aber noch irgendein fruchtbringender Funke von Streitlust in uns?
00:01:57: Oder hat sich der politische und öffentliche Diskurs längst ins Unversöhnliche zerstritten?
00:02:04: Und wenn ja, so bliebe die Frage wie weiter.
00:02:09: Wir leben, so scheint mir, in Zeiten, in der unsere gemeinschaftliche Denkflexibilität und mit ihr in gewisser Hinsicht auch Denkkapazität allmählich verkümmert, ein starrsinniges Recht haben wollen, mehr und mehr um sich greift und das Einfüllungsvermögen nur noch einseitig zündet, wenn sich nämlich dadurch das eigene Weltbild bestätigt sieht.
00:02:35: Die Polarisierung hat eine Wunde in das gesellschaftliche Miteinander geschlagen.
00:02:41: Wir gegen die, die gegen uns.
00:02:44: Wer seine Antieinstellung nicht explizit bekundet, zu welcher Thematik auch immer, macht sich verdächtig und ist im Umkehrschluss wohl pro.
00:02:56: So einfach geht das inzwischen.
00:02:58: Eine schwarz-weiß Mentalität hat sich in unsere Weltwahrnehmung eingenistet, dass Alles oder nichts Prinzip bestimmt den Diskurs.
00:03:08: Wer für einen flexiblen Mittelweg plädiert, der wirkt oft schon altbacken, Frieden und Streit im Sprachgebrauch.
00:03:18: Es genügt ein Blick in unseren Sprachgebrauch, um sich eine erste Vorstellung von den Begriffen Frieden und Streit zu machen.
00:03:27: Beide Begriffe hier im Bedeutungshorizont von Konsens und Disput verstanden.
00:03:33: Man kann interessanterweise Frieden schließen, aber keinen Streit.
00:03:38: Diesen wohl aber schlichten.
00:03:40: Frieden lässt sich aushandeln.
00:03:42: Der Streit muss hingegen ausgetragen werden.
00:03:45: Man kann stets zum Streiten aufgelegt sein oder Streit suchen.
00:03:50: Beim Friedensbegriff funktioniert diese Formel nicht.
00:03:54: Oder wie sehe es aus, wenn einer oder eine stets zum Frieden aufgelegt wäre?
00:04:01: Ohnehin würden wir doch alle von uns behaupten, Frieden stiften zu wollen.
00:04:07: Bei einer siegreichen Auseinandersetzung kann man dem Besiegten sogar ein Widerspruch in sich selbst den Frieden diktieren.
00:04:16: Was bei diesen hier zitierten Beispielen ins Auge fällt, der Frieden will aktiv herbeigeführt werden.
00:04:23: Man muss etwas dafür tun.
00:04:25: Er gelingt nicht von selbst.
00:04:27: Während der Streit wie aus dem Nichts entbrennen kann und sich an etwas entzündet und sich wie ein Flächenbrand ausweitet.
00:04:37: Wer streitet Gerät aneinander oder geht im Streit auseinander?
00:04:41: Manche liegen im Streit.
00:04:44: Entscheidend aber ist die Handlungsmöglichkeit auch bei Streitenden.
00:04:48: Der Streit lässt sich beiliegen, beenden.
00:04:52: Den Streit oder das Kriegsball kann man sogar begraben.
00:04:56: Für die gesellschaftliche Verständigung und diskursive Flexibilität, insbesondere in Demokratien, haben die sich gegenseitig bedingenden Kommunikationsphänomene von Konsens und Disput eine grundlegende Funktion und Bedeutung.
00:05:12: Umso wichtiger ist die Frage, welche Konsequenzen drohen, wenn Friede und Streit oder mit anderen Worten Einigung und Differenz nicht mehr als sich wechselseitig voraussetzende, sich korrigierende auf den Prüfstand stellende Pole auftreten, wenn sie nicht mehr als Tandem walten, sondern jeweils nur noch für sich selbst stehen.
00:05:37: Versöhnung ist mitten im Streit.
00:05:40: Ein jegliches hat seine Zeit und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde, ist in der Bibel zu lesen.
00:05:49: Liebe hat seine Zeit.
00:05:51: Hassen hat seine Zeit.
00:05:53: Streit hat seine Zeit.
00:05:56: Friede hat seine Zeit.
00:05:59: Prädiger Kapitel III bis VIII.
00:06:01: Mit diesen Fersen wird die Vorstellung einer quasi zyklischen Wiederkehr, widerstreitender Kräfte propagiert, da, um es mit Friedrich Hölderlin zu sagen, Sonnenglut und Frühlingsmilde, Streit und Frieden sich abwechseln.
00:06:18: Im Werk Hülderliens ist diese Idee vorherrschend, dass der Gegensatz eine Voraussetzung für Einheit ist, was sich widerspricht oder zurückweist, kommt zu gegebener Zeit erst recht zusammen.
00:06:32: oder wie es in Hyperion heißt, wie der Zwist der Liebenen sind die Dessonanzen der Welt.
00:06:39: Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder.
00:06:44: Das Individuum, ebenso wie das Kollektiv, ist geprägt von diesen Gegensätzen.
00:06:50: Es befindet sich stets irgendwo zwischen Streit und Versöhnung, zwischen innerer Spannung und harmonischer Entfaltung, zwischen Auflösung und erneutem Aufblühen.
00:07:01: Aber was hat das mit uns, mit unserer heutigen Lebenswirklichkeit zu tun?
00:07:07: Genügt es, zu behaupten, dass ganz im hölderlinischen Sinne im Konflikt das Potenzial einer Heilung liegt?
00:07:14: Das klingt gut, aber was bedeutet es?
00:07:17: Das Heilung im Zusammenhang eines gesellschaftlichen Kollektivs ein unbedingtes Einigsein aller in allen Dingen meint?
00:07:26: Und wie sehe ein solches Einstimmiges miteinander aus?
00:07:30: Oder handelt es sich hier um einen kontradiktorischen und sich im ständigen Wandel befindlichen Vorgang, des sich näherkommens und sich wieder abwendens?
00:07:43: Wir haben es mit einem Paradoxon zu tun.
00:07:46: Weil wir in der Differenz Meinungsverschiedenheit leben, sehen wir uns nach Einheit und Stimmigkeit.
00:07:53: Man will sich in seiner Ansicht bestätigt fühlen.
00:07:57: Doch je mehr wir diese Einheit erreicht, zu haben glauben und uns ihrer sicher sind, umso mehr scheint sie wieder zu bröckeln und zerfällt in ihre Bestandteile.
00:08:08: Die Frage muss daher stets lauten, unter welchen Umständen Konsens zustande kommt.
00:08:15: Wird er von oben herab diktiert und erzwungen oder entsteht er idealerweise quasi organisch von innen, sodass die nie auflösbare Meinungsvielfalt im vernünftigen Kompromiss zu einer punktuellen Einheit finden kann?
00:08:31: Ein immer wieder aufs Neue an zu kurbelnder Vorgang.
00:08:36: Habermas hat auf die Unerlässlichkeit des Herrschaftsfreien des Kurses in deliberativen Demokratien hingewiesen, in der Konsens nicht durch Macht, sondern durch Argumentation und rationales Prüfen erreicht wird.
00:08:53: Bei einer solchen machtfreien Kommunikation begegnen sich die Kontrahenten auf Augenhöhe.
00:08:59: Dazu gehört auch, dass keiner der Disputanten die Deutungshoheit über den jeweiligen Sachverhalt für sich beanspruchen kann, steht im Voraus bereits fest, wer gut, wer böse ist, wer auf der richtigen Seite steht und wer nicht, droht, der eigentlich konstitutive Austausch zu einer tautologischen Fars zu werden.
00:09:21: Es wird nur noch diskutiert und debattiert, um zuletzt zum immer gleichen Fazit zu gelangen.
00:09:28: Wir gegen die, in einer solchen Konstellation, wird unter dem Deckmantel der Konsensfindung lediglich Selbstbestätigung betrieben.
00:09:38: Politische und moralische Korrektheitszwänge.
00:09:42: Um streiten zu können, muss ein Fundament demokratischen Miteinanders gesichert sein, nämlich die in der Verfassung verankerte Rede und Meinungsfreiheit.
00:09:53: Wie soll man jemals eine Verständigung erzielen, wenn der Austausch von Argumenten aufgrund von zum Beispiel politischen oder moralischen Korrektheitszwängen gehemmt wird?
00:10:04: Doch eine Frage bleibt bestehen.
00:10:07: Kann es in Anbetracht der pluralen Betrachtungsweisen überhaupt einen immer gültigen Konsens geben?
00:10:15: Wieder strebt das Bemühen um eine Vereinheitlichung des verschiedenen, nicht sogar demokratischen Werten?
00:10:21: Die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouff entwickelte in ihrer postmaxistischen Diskurstheorie den Ansatz einer radikalen Demokratie, die im Gegensatz zur liberalen die Antagonismen nicht aufzulösen oder zu neutralisieren versucht, sondern gewähren lässt und in sich integriert.
00:10:44: Der Disput versteht sich in diesem Kontext als ein konstitutives Merk mal demokratischer Formationen.
00:10:52: Ein Streit ideologischer Art findet sich in Thomas Manns Der Zauberberg, der zwischen Lodovico Centimbrini und Leo Nafta.
00:11:03: Es ist die Auseinandersetzung zwischen einem Humanisten, Rationalisten und Vertreter der Aufklärung und einem Jesuitischen, intellektuellen Mystiker, der ein autoritäres, religiös motiviertes Weltbild verpflicht.
00:11:18: Hier treffen zwei grundsätzlich verschiedene und unversöhnliche Weltanschauungen aufeinander.
00:11:24: Die hitzigen Debatten zwischen beiden handeln von Frieden, Macht, Religion, Geschichte und der Funktion des Individuums.
00:11:33: Wobei deutlich wird, dass aufgrund ihrer diametral entgegensetzten Denkweisen ein Konsens auszuschließen ist.
00:11:40: Für Setem Brini lässt sich der Frieden nicht unabhängig von einem vernunftorientierten Fortschritt und rationalen Dialog denken.
00:11:50: Nafter hingegen glaubt, Frieden könne es nur geben, wenn der Mensch sich dem Absoluten unterwirft.
00:11:56: Dieser Disput kann zuletzt nur in einem absurden, gewaltbereiten Schlagabtausch, einem Duell kulminieren, den Naphter sozusagen für sich entscheidet, indem er seinem Leben selbst ein Ende setzt.
00:12:12: Unselig ist dieser Frieden.
00:12:14: Ärger als jeder Krieg.
00:12:17: Was es bedeutet, wenn die Einstimmigkeit einer Gesellschaft nach außen hin zwar offiziell behauptet, aber von innen her nicht gegeben ist, hat zum Beispiel der albanische Autor Ismail Kadare in vielen seiner Werke aufgezeigt und literarisch verarbeitet.
00:12:34: Ein hegemonial etablierter Konsens, absolute Art, wie er etwa in autokratischen System typisch ist, erlaubt, wenn überhaupt nur einen Scheindisput zweckseigner Machtaufrechterhaltung.
00:12:48: wenn öffentlicher Widerspruch nicht mehr möglich ist, wenn also Konsens und Disput nicht mehr co-existieren können, sondern radikal voneinander entkoppelt werden, wie etwa im albanischen Kommunismus der Jahre nineteenhundertvierzig bis neunzehundertneunzig, Drohterstarrung oder kommunikative Apathie, in Anlehnung an Habermas Theorie des kommunikativen Handelns.
00:13:15: Wenn nur noch ein extremer Konsens des Miteinander bestimmt, im Sinne eines so und nicht anders, verkommen Demokratien zu technokratischen Regimen, die keine politische Opposition mehr kennen.
00:13:29: In diesem Sinne kann im Werk Kadaris ein Satz wie dieser fallen.
00:13:34: Unselig ist dieser Frieden.
00:13:37: ärger als jeder Krieg, denn der Frieden kann täuschen.
00:13:41: und entpuppt sich mit der Zeit mehr als eine listige Ruhe vor dem Sturm.
00:13:46: Wie in Kadaris Roman die Brücke mit den drei Bögen, der albanische Mönch John beschreibt im Jahre, die sich wie eine alte Frau im Dorf es prophezeit als das Rückgrat des Teufels erweisen wird.
00:14:06: weil sie sobald sie steht, den osmanischen Soldaten die Überfahrt nach Europa ermöglicht und damit eine jahrhunderte-lange Okupation des Balkans durch die Osmanen einleitet.
00:14:20: Doch, weil trotz der Besetzung noch Ruhe herrscht, alles beim Alten zu bleiben scheint, ziehen die albanischen Grafen, die sich konformistisch zeigen und sich zu osmanischen Vasallen machen lassen, über die Warner her.
00:14:36: Habt ihr nicht behauptet, sagten sie, der Türke werde uns vernichten, ausplündern, in Schande setzen, aber wir sind noch immer die Herren über unsere Gebiete.
00:14:48: Unsere Bogen stehen noch am Platz, unsere Wappen, unsere Ehre und unsere Güter hat man nicht angetastet.
00:14:56: Vielleicht vergleichbar mit Christa Wolfskassandra, wo es heißt, wann der Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg?
00:15:05: Lasst euch nicht von den eigenen täuschen.
00:15:08: Durch die Ausgrenzung des kritischen Diskurses oder das Nicht Ernstnehmen der Warner – Cassandra erkennt den drohenden Untergang Trojas – wird aber nicht gehört, kommt es zur Katastrophe.
00:15:22: Daher so ließe sich mit einem weiteren Zitat aus dem Werk Kadaris Dorontinas Heimkehr abschließend sagen, ist es besser, Unstimmigkeiten auszutragen, als sie im Zeichen der Vermeidung sichtbaren Streits zu unterdrücken, denn Zank mündete schließlich stets wieder in Versöhnung, während Hader, der gar nicht richtig zum Ausbruch kommt und daher unverarbeitet bleibt, auf einen Anlass der Bekundung wartet.
00:15:54: Und da sich solche Bekundungsanlässe in der Regel zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort ergeben, sind die Auswirkungen wesentlich verdrieslicher als die eines gewöhnlichen Streites.
00:16:06: Wie wäre es also, wenn der alljährlich in der Frankfurter Paulskirche vom Börsenverband des deutschen Buchhandels verliehende Friedenspreis um die Verleihung eines Preises an Vertreter einer würdigen Streitkultur ergänzt würde?
00:16:27: Geboren in Pristina, Kosovo, ist eine Schweizerisch-Deutsche Literaturwissenschaftlerin und Publizistin.
00:16:38: Seit Jahrzehnten ist sie Kolonistin für die Schweizer Wochenzeitschrift Das Magazin.
00:16:46: Derzeit lehrt sie als Privatduzentin am Institut für Germanistik der Universität Bern.