Restbestände einer bürgerlichen Tugendlehre
Shownotes
In ihrem Essay „Restbestände einer bürgerlichen Tugendlehre“ analysiert Politikwissenschaftlerin Astrid Séville, wie aus dem Ruf nach demokratischer Streitkompetenz eine moralische Selbstvergewisserung der liberalen Mitte geworden ist. Zwischen Empathie und Abwehr, Small Talk und Prinzipientreue fragt sie: Reicht gutes Benehmen, um die Demokratie zu verteidigen, oder müssen wir auch wieder siegen lernen?
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00:00:00: Restbestände einer bürgerlichen Tugendlehre.
00:00:03: Die Beschwörung liberaldemokratischer Streitkompetenz.
00:00:08: Ein Bericht von Astrid Sehwil.
00:00:11: In seinem jüngsten Werk entdeckt der Kulturwissenschaftler Helmut Leten das Erbe des Stoizismus wieder.
00:00:20: Bei Leten verwundern solche Überlegungen zu einem den Zeiten und Umständen angemessenen Verhalten nicht.
00:00:27: ist doch die kalte Persona der Zwischenkriegszeit des zwanzigsten Jahrhunderts sein akademisches Lebensthema.
00:00:35: Das Ringen um den richtigen Grad von Kälte und Wärme sowie daran anschließend die Frage nach einem klugen Maß von Aufgeregtheit, Alarmismus oder Sachlichkeit und Abgeklärtheit ist mehr als ein gestriges Phänomen, das den Gegenstand wissenschaftlicher Studien bildet.
00:00:55: Es ist heute angesichts weltpolitischer Verwerfungen und Konflikte sowie der Attacken auf den demokratischen Rechtsstaat und die pluralistische Gesellschaft ein politisches Problem.
00:01:08: Wie soll man auf die gegenwärtige Lage antworten?
00:01:11: Wie soll man auf die Aggressivität autoritärer, illiberaler, revanchistischer, rechtspopulistischer und radikaler Kräfte reagieren?
00:01:22: Nicht ohne Grund hat der mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, zwei Tausendfünfundzwanzig ausgezeichnete Historiker Karl Schlögel, seine Preisrede von der Ukraine lernen, Verhaltenslehren des Widerstands, betitelt.
00:01:38: Parallel zu Schlögel's Mahnungen warnt Michael Friedmann vor der Gleichgültigkeit einer Mitte, die sich behebig in Sicherheiten wiege und wegschaue.
00:01:48: wenn es um die Verteidigung ihrer eigenen Prinzipien und Werte geht.
00:01:53: Und manch ein Journalist erwegt gar die Frage, ob die deutschen Bürger noch gar nicht den Ernst der Lage begriffen hätten.
00:02:02: Jenseits der Frage nach einer angemessenen Krisenpolitik stellt sich folglich das Problem einer angemessenen Haltung eines richtigen Verhaltens in diesen Zeiten.
00:02:13: Dabei kann womöglich mit und gegen Letens relegthüre stoische Gelassenheit als Fatalität einer sattorierten bürgerlichen Gesellschaft gelten.
00:02:25: Denn die Rede von der Wehrhaftigkeit des demokratischen Verfassungsstaats bleibt ohne eine wehrhafte Gesellschaft und zu ihr fähige und willige Bürger Hohl.
00:02:37: Genau diese gesellschaftliche Wehrhaftigkeit und Verteidigungsbereitschaft stehen in Deutschland zur Debatte.
00:02:45: Einem Aspekt dieser Diskussion will dieser Essay nachgehen.
00:02:50: Mit Blick auf die innenpolitische Konfliktlage stellt sich die Frage, wie man mit den Angriffen, Tabubrüchen und Entgleisungen von Rechtspopulisten und Extremisten umgehen soll.
00:03:03: Die Überprüfung der Verfassungstreue Das immer wieder erwogene Parteiverbot der AfD und der Ausschluss mancher Kandidaten vom passiven Wahlrecht sind bekanntlich die Schwerte des deutschen Rechtsstaats.
00:03:17: Doch Rechtspopulismus und Extremismus werden nicht nur als eine parteipolitische, sondern auch von vielen Bürgern als eine soziale, moralische und kommunikative Herausforderung im konkreten Miteinander erlebt.
00:03:33: Was kann man tun?
00:03:34: Was soll man tun?
00:03:36: Wenn das Gegenüber radikale, demokratiefeindliche und oder inkriminierende Ansichten kundtut, muss man dann als guter Bürger streiten, streiten lernen.
00:03:49: In den letzten Jahren wurde immer wieder betont, wie sehr die liberale Demokratie von Orten und Praktiken des Streitens zährt.
00:03:58: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beschwört die Fähigkeit des Puts.
00:04:04: Ja, er hat sich einen geradezu kämpferisch pastoralen Ton angewöhnt.
00:04:09: Auch andere schließen in Veröffentlichungen an die Idee demokratischer Streitkompetenz an.
00:04:15: So formuliert der ehemalige Bundesminister Heiko Maas die Sentence, unsere Streitkultur ist ein Fundament unserer Demokratie.
00:04:24: Während wieder andere Autoren etwas langatmiger erklären, Demokratie braucht eine lebendige Streitkultur und einen offenen Austausch über die politischen und weltanschaulichen Lager hinweg.
00:04:39: Nur dadurch können die in Demokratien gemeinsamen Maßstäbe für eine gelungene Politik gefunden werden.
00:04:46: Das Reden und Schreiben über Reden, diskutieren und streiten hat Konjunktur.
00:04:53: weil der Eindruck herrscht, dass diese nicht mehr routiniert ablaufen und man sich daher auf ein neues ihrer Voraussetzungen und Verfahrensweisen vergewissern muss.
00:05:03: Insbesondere der Aufstieg und die Wahlerfolge rechtsextremistischer Kräfte haben ebenso wie die öffentliche Diskussion um Verschwörungstheorien im Zuge der Corona-Pandemie zu einer Verunsicherung geführt, so dass man sich nicht nur nach einer Lektüre von Jürgen Habermas Werk fragt, ob Demokratie eine bestimmte Kultur des Umgangs der Anerkennung von Wissen, Rationalität und Moral sowie bestimmte kommunikative Verfahren und Geflogenheiten benötigt.
00:05:36: Zumindest bürgerlichen Milieus schienen spezielle Konversations- und Diskussionstechniken als ein selbstverständliches Element der liberal-demokratischen Öffentlichkeit.
00:05:47: Auch, wenn man einwenden konnte, dass dies dazu diente bürgerliche Eigenheiten zu idealisieren, zu verallgemeinern und sich abzugrenzen.
00:05:58: Seit geraumer Zeit bieten Medien und Plattformen wie X, TikTok, Instagram etc.
00:06:03: Artikulations- und Teilhabemöglichkeiten, die den Kreis der Sprecher erweitern, neue Formate, Stile, Tonfälle des politischen Sprechens ermöglichen und in den Raum des Sicht- und Hörbaren einführen.
00:06:19: Damit werden auch hässliche, diskriminierende und destruktive Einwürfe lauter.
00:06:25: Technisch wird die öffentliche Polymisierungsspirale noch befeuert.
00:06:31: Dies führt nun zu der breit geteilten Diagnose eines Verfalls der politischen Debatten und Streitkultur.
00:06:38: Bei dem Publizisten-Christian-Schule heißt es etwa, Politiker und Bürger haben das stilvolle Streiten verlernt.
00:06:47: Die Philosophin Marie-Louisa Frick schreibt, eine solche Kultur offenen Denkens und Widersprechens, also eine demokratische Streitkultur, sieht sich zahlreichen Gefährdungsbedingungen ausgesetzt.
00:07:02: Vor dem Hintergrund dieser Verfallsdiagnose und des Aufstiegs radikal rechter Kräfte wollten in den letzten Jahren zahlreiche Autoren wie Bernhard Pörksen und Friedmann Schulz von Thun Franzi von Kempis, Philipp Stephan, Hassenein Kasim, Romy Laster und David Lanius, darlegen, wie politisches Streiten und Debatten zivilisiert, konstruktiv und höflich funktionieren kann, wie man durch gute Gesprächsführung Konflikte austragen, aber auch Brücken bauen kann.
00:07:38: In all diesen Publikationen wird betont, dass man Rechtspopulisten, Verschwörungstheoretikern und anderen etwas anderes als Schweigen entgegensetzen müsse.
00:07:50: Es geht um konkrete Praktiken der Auseinandersetzung und um die Erörterung einer Sprachfähigkeit des eigenen politischen Standpunkts, um Möglichkeiten der Austragung von Konflikt und Versöhnung und dabei um eine Haltung, die jeder Einzelne einnehmen und ein üben kann.
00:08:11: Es handelt sich um Handreichungen, die einerseits Mut, Zivilcourage, Wiederrede, einen Gestus der engagierten politischen Vorwärtsverteidigung fordern, andererseits Zivilisiertheit, Anstand, Haltung, Höflichkeit empfehlen.
00:08:28: Präzise Verhaltensregeln.
00:08:30: Dabei ist bemerkenswert, dass jene Autoren ihre Überlegungen zu einem höflichen zivilisierten und konstruktiven Streiten oftmals mit sozial-psychologischen Allgemeinplätzen versehen.
00:08:43: Im Werk von Perksen und Schulz von Thun erfährt man zum Beispiel, der Mensch ist ein Beziehungswesen.
00:08:50: Die Qualität seines Lebens steht und fällt mit der Qualität gelingender Beziehungen.
00:08:56: Das heißt, dass er stets beides braucht.
00:08:59: die Bereitschaft zum Streit und ein Mindestmaß an Verständnis und Empathie.
00:09:05: Vielfach benennen die bereits erwähnten Autoren die Grenzen menschlicher Rationalität und Einsichtsfähigkeit auch die Biasis von Individuen.
00:09:16: Hinweise auf die in einer Demokratie essenzielle Bereitschaft zur Auseinandersetzung treffen auf die Mahnung, dass man Befindlichkeiten, Irrationalitäten und Gefühle anerkennen bzw.
00:09:29: stehen lassen müsse.
00:09:31: Immer wieder taucht hierbei der Schlüsselbegriff Empathie auf.
00:09:36: So schreibt Franzi von Campes, bei sich selbst Empathie für die vielleicht konträren Meinungen anderer zu wecken, und aufrecht zu erhalten, ist nicht immer einfach.
00:09:47: Zudem formulieren diese zeitgenössischen Texte mit unter sehr präzise Verhaltensregeln.
00:09:54: Als Beschreibung eines guten Streits benennen die Philosophen David Lanius und Romy Jaster zehn Regeln für eine gute Debatte.
00:10:03: Eins, versuchen Sie wirklich zu verstehen.
00:10:07: Zwei, bleiben Sie beim Thema.
00:10:09: Drei, stellen Sie so viele offene Fragen wie möglich.
00:10:13: Vier, finden Sie Gemeinsamkeiten.
00:10:17: Fünf, belehren Sie Ihr Gegenüber nicht.
00:10:21: Sechs, begründen Sie Ihren Standpunkt.
00:10:24: Sieben, interpretieren Sie wohlwollend.
00:10:28: Acht, üben Sie sachliche Kritik.
00:10:32: Neun, deeskalieren Sie.
00:10:35: Und zehn, wechseln Sie die Perspektive.
00:10:39: Hier werden eine Verständnisorientierung sowie eine Praxis des sachlichen Argumentierens angemahnt.
00:10:46: Etwas, das in Habermas Theorie noch Sprach bzw.
00:10:51: Kommunikationsimmanent gegeben war.
00:10:54: Der Kontrast zu diesem Werk zeigt, dass die Autoren ein praktisches Wissen, ein didaktisches Vademikum einer ins populäre gewendeten Diskursethik formulieren.
00:11:07: Nicht nur hier klingen konkrete Praktiken, Verhaltensweisen und Affektlagen an.
00:11:13: Diskurs und Streitkompetenz äußert sich in Selbstbeherrschung, in einer sachlichen Verweigerung von Enthemmung, in einer Beherrschung und Beharrung auf Takt, Manieren, Diplomatie sowie in Anerkennung, Abwägung und Interesse.
00:11:31: Es gehe schließlich darum, mit einer offenen Haltung ins gemeinsame Gespräch zu gehen.
00:11:37: Marie-Louisa Frick verbindet daher ihre Überlegungen zum zivilisierten Streiten mit einer Ethik der politischen Gegnerschaft, die auf den Punkt hinausläuft.
00:11:49: Es gelte, den anderen anzuerkennen und Streit bzw.
00:11:53: Agonalität als produktives Merkmal von Pluralismus zu begreifen.
00:11:59: In einem Artikel in der Zeitschrift Christmas fassen schließlich zwei Autorinnen die einschlägige Ratgeber-Literatur zum guten Streiten zusammen.
00:12:09: Vielleicht die wichtigste Regel.
00:12:12: Weniger sagen, mehr fragen.
00:12:15: Nicht ins Wort fallen, nicht vorschnell reagieren.
00:12:18: Dabei hilft es, sich zurückzulehnen, äußerlich wie innerlich.
00:12:22: Gemeinsamkeiten betonen.
00:12:24: Da sind wir ja einer Meinung.
00:12:26: und durch Smalltalk Gemeinsamkeiten schaffen.
00:12:30: Wetter, Kindererziehung, Hobbys.
00:12:33: Kontakt unter Auflagen.
00:12:35: Wir treffen uns, aber sprechen nicht über dieses Thema, weil es mir damit nicht gut geht.
00:12:40: Unbedingt das Gespräch beenden, bevor es zum Streit kommt.
00:12:44: Ach so.
00:12:45: Nicht damit rechnen, das Gegenüber zu überzeugen.
00:12:48: Strategischer Wechsel von Diskussion zu Konversation.
00:12:53: Erneut zeigen sich Appelle an Gelassenheit, Disziplin sowie eine Art didaktische Raffinesse.
00:12:59: Verstehen wollen, bedeutet, Fragen zu stellen, gegebenenfalls Gesprächsregeln festzulegen, sich auf einer Metaebene des Gesprächs zuzubewegen.
00:13:11: Der einzelne hier angelernte Akteur funktioniert zugleich als Schiedsrichter, Instanz und Gesprächsführung und Gesprächsbeteiligter.
00:13:21: was eine Asymetrie eine machtvolle Schieflage im Gespräch mit sich bringt.
00:13:26: Wer entscheidet, wann, überregeln, Abbruch?
00:13:30: Der kompetentstreitende Bürger ist dazu im Stande.
00:13:34: Ihm kommt eine kommunikative Souveränität zu.
00:13:37: Im Sinne dieser Streitsouveränität taucht nicht nur die Möglichkeit des Gesprächsabbruchs, sondern auch der strategische Wechsel von politischer Diskussion zu Konversation im Hinweis auf Smalltalk wieder auf.
00:13:53: Verstehen wollen heißt auch Gemeinsamkeiten erkennen wollen.
00:13:58: Geselligkeit produzieren, notfalls das Thema wechseln, um diese jenseits des politischen herauszustellen.
00:14:06: Politisch zu diskutieren scheint ohne Unverfängliches Konversieren kaum denkbar.
00:14:12: Konversieren ermöglicht den sozialen Kitt, der Streit, abzumildern und zu umgehen helfen kann.
00:14:21: Der potentielle politische Gegner wird dann zu einem Andersdenkenden, der vielleicht auch Kinder hat, Angeln geht, ebenfalls unter dem Dauerregen leitet und so weiter.
00:14:33: Harter politischer argumentationsbasierter Streit bleibt ein soziales Risiko und eine potenzielle Zumutung.
00:14:41: Die Tugend des Streitens Jene Verhaltenslehren des guten Streitens konstruieren eine Asymetrie der Gesprächssituation.
00:14:52: Die Frage, wer die Regeln oder Grenzen sachlicher Kritik oder von Smalltalk festlegt, und die Szenarien, der in den Texten erzählten Gesprächssituationen führen, unweigerlich zur Frage kommunikative und sozialer Macht.
00:15:08: Jene Handreichungen richten sich an den guten, liberalen, aufgeklärten, verständnisorientierten und effektkontrollierten Demokraten.
00:15:17: dessen Fähigkeit zu streiten, aber auch Streit zu moderieren und notfalls abbrechen zu können, wenn die andere Seite gar kein Interesse an argumentativen Austausch zeigt, wird zu einer Beweisführung bürgerlicher Redlichkeit und Sozialkompetenz.
00:15:34: Politischer Streit zehrt nicht nur von sozialen Tugenden, er wird selbst zur liberal-demokratischen Tugend.
00:15:43: Diese wird so häufig beschworen, dass es politisch beinahe hilflos wirkt.
00:15:49: Hier zeigt sich der vorgeblich weltanschaulich neutrale Rechtsbestand einer Tugendlehre, auf die sich einer in jeder Hinsicht heterogenen und diversifizierten Gesellschaft der Gegenwart alle einigen können sollen.
00:16:06: Aber was, wenn auch Streit und Gespräch keine Befriedung gesellschaftlicher Konflikte mehr leisten können?
00:16:13: Am Ende ist es eine Formulierung des Eingangs erwähnten Karl Schlögel, die liberale Demokraten heutzutage zu irritieren vermag.
00:16:25: Schlögel erklärte, wohl gemerkt mit Blick auf die Ukraine, man müsse womöglich auch wieder siegen lernen.
00:16:35: Astrid Sehwil, geboren in Aachen, Professorin für Politikwissenschaft, insbesondere politische Theorie, Leuphana-Universität Lüneburg, gelesen von Christiane von Albert.