Integration durch Konflikt
Shownotes
Wie viel Streit verträgt eine Demokratie? Und wie viel braucht sie? Jens Hacke blickt auf die alte Bundesrepublik als Epoche intensiver intellektueller Auseinandersetzung zurück. Inmitten politischer Gegensätze und ideologischer Brüche entwickelte sich eine Streitkultur, die Integration erst möglich machte. Was die Bonner Republik über das Miteinander von Konflikt, Vernunft und Gemeinsinn lehrte, ist für unsere polarisierten Zeiten aktueller denn je.
Transkript anzeigen
00:00:00: Integration durch Konflikt Intellektuelle Streitkultur in der alten Bundesrepublik Von Jens Hacke.
00:00:12: Blicke in die Vergangenheit erfahren Perspektivverschiebungen und dasjenige, was lange vertraut und ein wenig langweilig erschienen ist, kann zum verklärten Sehnsuchtsort werden.
00:00:25: womöglich lässt sich die viel zitierte Zeitenwende auch daran festmachen, dass uns die alte Bundesrepublik in ihrer Heimlichkeit und Übersichtlichkeit endgültig abhandengekommen ist.
00:00:40: Die Bonner Jahre gehören mittlerweile ins ferne zwanzigste Jahrhundert und werden in ihrer historischen Vergegenwärtigung nicht selten idealisiert.
00:00:50: Es sind kompakte Beschreibungen einer gemeinsamen Lebenswelt, die dem Provisorium ein spezifisches Zusammengehörigkeitsgefühl zuschreiben, das allgemein als Bestandsvoraussetzung eines funktionierenden Gemeinwesens gilt.
00:01:06: Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft etwa, mit dem zwiebelförmigen Wohlstandsbauch symbolisierte das Versprechen erstrebenswerter ausgeglichener Lebensverhältnisse.
00:01:19: Vorbei die Zeit der Klassenspaltung und Segmentierung in Sozialmilieus mit feinen Unterschieden, stattdessen sorgte das Wirtschaftswunder für sozialen Aufstieg.
00:01:31: Soziologen wie Ralf Darendorf forderten, Bildung als Bürgerrecht und in der Tat sorgte dafür die Modernisierung des Schulsystems, der rasante Ausbau von Universitäten und Hochschulen seit den nineteenhundertsechziger Jahren.
00:01:48: Der Glaube an die Modernisierung einte die unterschiedlichen politischen Lager.
00:01:54: Partei übergreifend avancierte Reform zum Zauberwort und mit einer florierenden Wirtschaft im Rücken veränderte sich die Lebenswelt so rasch wie nie zuvor.
00:02:06: Auch wenn man über die schädlichen Nebenwirkungen des Fortschritts die Unwirtlichkeit unserer Städte Die ökologischen Folgen der Industrialisierung, die Atomkraft oder die Nachrüstung stritt, die politischen Richtungen ließen sich einigermaßen zuordnen.
00:02:23: Ideologische Formierungen blieben transparent und ereigneten sich in Zeitlupe.
00:02:29: Nicht zu vergessen, ein überweltigender, antitotalitärer Konsens.
00:02:36: Der Antikommunismus war sicherlich ideologisch eine entscheidende integrative Klammer, die eine Akzeptanz der liberalen Demokratie erleichterte.
00:02:46: Bürgerliche Freiheits- und Partizipationsrechte, Rechtsstaatlichkeit und demokratische Öffentlichkeit konnten als Distinktionskriterium gegenüber der DDR leicht und bisweilen auch etwas selbst zufrieden hervorgehoben werden.
00:03:04: Ermutigung zur Konfliktbereitschaft.
00:03:07: Besorgte Intellektuelle sahen bis zum legendären Aufbruch der Achtundsechziger in der fehlenden Streitkultur in der vermeintlich protestantisch ererbten Staatsgläubigkeit und Harmoniesehnsucht das Manco der westdeutschen Demokratie.
00:03:24: Wieder war es Ralf Darndorf, der in seiner klassischen Bestandsaufnahme Gesellschaft und Demokratie in Deutschland in liberaler Weise den Streit als die Essenz der Demokratiebegriff.
00:03:42: Die demokratischen Lebensformen mussten auch deshalb eingeübt werden, weil die Selbstbefreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft ausgeblieben war und der deutsche Teilstadt nicht auf eine republikanische Gründungserzählung bauen konnte.
00:03:58: Im Anfang stand eben keine Revolution.
00:04:02: Unsere Demokratie ist nicht geboren aus der hochgemuten Gesinnung eines Befreiungskampfes, sondern uns verordnet, als wir ein Haufen überlebender Deutscher waren, so etwa Karl Jaspers viel gelesene und pessimistische Bestandsaufnahme.
00:04:20: Wohin treibt die Bundesrepublik?
00:04:25: Die einzige Alternative, die uns retten kann, ist nicht eine vermeintliche Normalität, sondern die politische Wiedergeburt.
00:04:34: Seine Freundin Hannah Arendt teilte diesen Befund.
00:04:38: Über die Bundesrepublik müsse man sich nicht weiter unterhalten, schrieb sie noch im Juni, nineteenhundertfünfundsechzig, an ihren Doktorvater, denn ihr sei der Untergang an die Stirn geschrieben.
00:04:52: Stimmen einer neuen Linken waren nachdrücklicher.
00:04:56: Der Vorwurf, eine autoritäre oder lediglich formale Demokratie zu sein und seine Scheinstabilität zur Erfolgsgeschichte zu verbrähmen, gehörte gewissermaßen zum Standardreparatoire.
00:05:10: Übrigens zeigten sich rechts und links in dieser Frage überraschend einig.
00:05:16: Vertreter des sogenannten technokratischen Konservatismus, wie die Soziologen Hans Freier, Arnold Gehlen oder Helmut Schelski, hielten die Superstrukturen und Sachzwänge der Industriegesellschaft für gegenwärtsprägend und nahmen die Demokratie lediglich als eine Fassade war.
00:05:36: Die moderne Technik bedarf keiner Legitimität.
00:05:39: Mit ihr herrscht man, weil sie funktioniert.
00:05:45: in der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, und verabschiedete damit jede normative Idee der Demokratie.
00:05:57: Die Soziologie konnte die Ohnmacht des Einzelnen allenfalls dokumentieren.
00:06:02: Rückgängig machen ließen sich diese Entwicklungen jedoch nicht.
00:06:07: Große Spannweite im Meinungsspektrum.
00:06:11: Während solche ehemaligen nationalsozialistischen Idealisten in abgeklärter Nüchternheit ein postideologisches Zeitalter der Technik heraufziehen sahen, machten sich junge Linke wie Jürgen Habermas und Klaus Offe diese Diagnose zu eigen, um sie als bundesrepublikanische Realität zu kritisieren.
00:06:35: Wenn sie die Strukturprobleme des kapitalistischen Staates oder die Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus aufs Kornnamen, dann spielten die Rationalitätsdefizite die unzureichender Demokratisierung geschuldet waren, die wesentliche Rolle.
00:06:54: Arrangierte sich der technokratische Konservatismus mit der bundesrepublikanischen Industriegesellschaft, weil die Alternativlosigkeit sozioeconomischer Rationalität den politischen Meinungsstreit zu suspendieren schien und darum kein zweites Weimar zu befürchten war, so setzten kritische Linke die bald vom Revolutionsentusiasmus der Studentenbewegung überholt wurden, auf die Demokratisierung der Demokratie, um das Land politisch-kulturell bewohnbar zu machen.
00:07:29: Erstaunlich bleibt im Rückblick auf die so stabil erscheinende Bonner Republik, wie groß die Spannweite im Meinungsspektrum war.
00:07:38: während konservativ geneigte entweder zu klassischen Law- und Order-Positionen tendierten oder politische Protestbekundungen ohnehin für wirkungs- und sinnlos erklärten, sorgten sich liberale und linke Intellektuelle auf unterschiedlichen Weisen um die Etablierung der Demokratie als Lebensform, die Kritik zur Norm, Streit als Lebenselixier und die Überwindung von Staatsgläubigkeit zum Ziel erklärten.
00:08:09: Vergegenwärtigt man sich, wie heftig die Debatten nach nineteenhundertsechzig gerieten und wie stabil die Parteinlandschaft geblieben ist, reibt man sich die Augen.
00:08:20: Zwar leben viele achtundsechziger Veteranen heute nicht zu Unrecht im Bewusstsein durch ihre Proteste gegen Notstandsgesetze, Springerpresse, Scharbesuch und Vietnamkrieg zur Umgründung der Bundesrepublik beigetragen zu haben, die Effekte auf die Wahlergebnisse blieben allerdings minimal.
00:08:42: Anstatt in Glaubwürdigkeitskrisen zu geraten, erhielten die Volksparteien großen Zulauf.
00:08:49: Und die gesellschaftliche Politisierung, von der viele zwischen Ostpolitik, neuen sozialen Bewegungen und Terrorismus-Furcht in den Neunzehnthundertsebzigerjahren sprechen, konnte vom bestehenden Parteinsystem weitgehend absorbiert werden.
00:09:06: Der politische Streit mag zu harten Auseinandersetzungen geführt haben, hatte aber für das politische System integrative Wirkungen.
00:09:17: Folgen des SED-States für die Streitkultur Nicht so einfach bewertbar bleibt das Erbe des real existierenden Sozialismus für die Streitkultur im geeinten Deutschland, die Von oben erzwungene ideologische Stromlinienförmigkeit und der Rückzug in dissidente oder zumindest regimeferne Nischen hat bis heute Folgen hinterlassen.
00:09:44: Zum einen die Frustration gelernter DDR-Bürgerinnen und Bürger in ihren Erfahrungen und Lebensleistungen nicht gewürdigt zu werden, zum anderen die berechtigte Forderung der DDR-Opfer und Gegner an den Unrechtscharakter des SED-Stattes zu erinnern und gegen die harmonische Lesart der friedlichen Revolution, die von einer vermeintlich überwältigenden Mehrheit ausgelöst worden ist, Einspruch zu erheben.
00:10:15: Diese Debatten, vermengt mit dem Problem unter westdeutscher Dominanz demokratische Lebensformen einüben und zivilgesellschaftliche Strukturen nachholend etablieren zu müssen, beeinflussen die Schieflagen heutiger Streitkultur.
00:10:32: Es lag überdies eine gewisse Ironie in der bundesdeutschen Geschichte, das just in der Phase der Selbstanerkennung Als sich eine kritische Linke von Habermas langsam zum Verfassungspatriotismus bekehren ließ und eher konservativ gesinnte Stolz auf die Erfolgsgeschichte einer ökonomisch leistungsfähigen, international anerkannten und institutionell stabilen parlamentarischen Demokratie blickten, Abschied vom Provisorium genommen werden musste.
00:11:06: Die Bundesrepublik lieferte ein Lehrbeispiel für ihre liberal-konservativen Verteidiger.
00:11:12: Der Aristoteliker Dolph Sternberger hatte früh den Umstand betont, dass die Bürgerinnen und Bürger durch demokratische Praxis die Spielregeln des Gemeinwesens einüben und zur Identifikation mit dem Staatswesen gelangen können.
00:11:29: Gegen eine konservative Staatslehre, die auf Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk sowie außenpolitischer Souveränität beharte, etablierte er die Überzeugung, dass die aktive Bürgerschaft den Staat bildet und durch Gemeinsinn zusammengehalten wird.
00:11:48: Sternberger's aristotilisches Vokabular klingt heute wie aus der Zeit gefallen, aber es erzählt uns einiges über die veränderten Maßstäbe des Politischen.
00:12:00: Während heute eine radikale Demokratie reussiert, der Kampf um Anerkennung vermeintlich ausgeschlossener und die Empörung zum Wesenskern der Politik werden, erkannte Sternberger den Zweck aller politischen Bemühungen in der Wahrung des Friedens.
00:12:19: Der Friede sollte Sinn und Ziel aller Politik sein.
00:12:23: Damit stellte er sich in eine große bürgerlich-republikanische Tradition.
00:12:28: Immanuel Kanz, ewiger Frieden, und Hans Kelsens Mahnung, den sozialen Frieden, durch Kompromisse zu bewerkstelligen, sind unmittelbare Bezugspunkte.
00:12:42: Sternbergers theoretischer Antipode war Karl Schmidt, der bekanntlich die Unterscheidung von Freund und Feind zum Kriterium des politischen Machte und die Vernichtung des politischen Gegners für ein legitimes Unterfangen hielt.
00:12:59: Ohne Schmitz Rolle als Kron-Jurist des NS-Staates überhaupt zu thematisieren, der Führer schützt das Recht, und hielt ihm entgegen, dass die Bestimmung des Politischen über das Freundfeindkriterium ähnlich abstruß sei, wie das Wesen der Ehe aus der Scheidung zu erklären.
00:13:22: Das politische Verstand Sternberger hartnäckig als den Bereich der Bestrebungen Frieden herzustellen, Frieden zu bewahren, zu gewährleisten und zu schützen und freilich auch zu verteidigen.
00:13:38: Erritationen für gestandene Altbundesrepublikaner.
00:13:43: Überhaupt liefert das politische Denken der alten Bundesrepublik zahlreiche Beispiele für das Bemühen, die Friedensdividende eines möglichst inklusiven Bürgerbegriffs herauszustellen.
00:13:57: Während Jürgen Habermas sich um die Möglichkeiten kommunikativen Handelns sorgte und im rationalen Diskurs unter fern Bedingungen Meinungskämpfe durch die Vernunft zu pazifizieren strebte, wurde sein Antagonist Hermann Lübe nicht müde, Demokratisierungszwänge zu betonen, die den Common Sense gegenüber technokratischen Sachzwängen stärkten.
00:14:23: Das war eine Auseinandersetzung über geeignete Prozeduren.
00:14:28: Habermaß anfängliches Vertrauen auf die institutionelle Berücksichtigung zivilgesellschaftlicher Impulse für eine frotschreitende Demokratisierung, libys Optimismus hinsichtlich einer dauerhaften demokratischen Entscheidungsfähigkeit im Rahmen der verfassungsmäßig vorgezeichneten Möglichkeiten.
00:14:49: dass die liberale Demokratie gesellschaftlichen Frieden und das Gemeinwohl anstrebte, darüber war man sich ebenso einig wie über den konstruktivistischen Charakter von individueller und kollektiver Identität.
00:15:04: Die Unversöhnlichkeit heutiger Identitätspolitik hätte gestandene Alt-Bundesrepublikaner irritiert.
00:15:13: Nicht nur die deutsche Identität blieb problematisch.
00:15:17: Traditionen und Geschichte hatten generell Identitätspräsentationsfunktionen.
00:15:23: Herrmann Lübe, auch persönliche Identität musste in liberaler Weise als multiplis Konstrukt verstanden werden.
00:15:31: In der Pluralität der Identitäten und Rollen lagen Freiheiten, doch das entscheidende Kriterium blieb, der von allen geteilte Bürgerstatus als Basis der Verständigung.
00:15:43: Diskriminierungslasten, Opferstatus und Emanzipationspflichten galten darum, in mancherlei Hinsicht womöglich voreilig, als gelöst, denn ethnische, religiöse, sexuelle oder genderbedingte Zugehörigkeiten konnten zur geschützten Individualsphäre gezählt werden.
00:16:04: Ein unschätzbarer Stabilisierungsfaktor war die Allgegenwärtigkeit der NS-Verbrechen als A-moralisches Gegenbild.
00:16:13: Dass der Aufwand historischer Vergegenwärtigung mit dem Aussterben der Zeitzeugen ungleich größer werden würde, war allen bewusst.
00:16:23: Die Konsequenzen für den Zerfall eines selbstverständlichen moralischen Konsens waren hingegen kaum vorhersehbar.
00:16:31: Die Aufstellung immer neuer Sackbarkeitsregeln oder Sprechverbote wirken dann wie ein Zeichen der Desorientierung.
00:16:40: Eher flüchtet man sich in Meinungen einer sicheren Community, die vielfach beklagten Echo-Räume, anstatt Argumente der Gegenseite anzuhören.
00:16:51: Angetrieben durch neue soziale Medien, die nach Polemik und Zuspitzung verlangen, werden die Streitigkeiten vor allem laut, aber nicht unbedingt intensiv ausgetragen.
00:17:03: Der Arabist Thomas Bauer hat einen allgemeinen Trend zur Vereindeutigung der Welt vor einigen Jahren Konzise beschrieben.
00:17:14: Die Krise des Liberalismus ist immer mit dem Verlust an Mehrdeutigkeit und Pluralität verbunden.
00:17:22: Ambiguität und Ambivalenz auszuhalten.
00:17:26: Darin Freiheit und Handlungsspielräume zu erkennen, gehört zu den tragenden liberalen Tugenden.
00:17:34: Sie erschöpfen sich nicht im Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung, sondern sind das Ergebnis von nachhaltigen Bildungsanstrengungen und der aktiven Sorge um das Gemeinwohl.
00:17:48: Insofern ist jeder abgesang auf den Liberalismus, seine Gleichsetzung mit dem Kapitalismus, gar die Rede vom post-liberalen Zeitalter fahrlässig.
00:17:58: Vielmehr zeigt der Blick auf ein Dreivierteljahrhundert bundesrepublikanischer Streitgeschichte, dass Debatten über die Neukontuerung liberaler Ideen produktiv und zukunftsweisend sein können.
00:18:12: Sie werden auch heute benötigt, um auf gemeinsamer Basis wieder intensiv über die wirklichen politischen Probleme zu streiten.
00:18:24: Über den Autor Jens Hacke, geboren in Bonn, lebt als Politikwissenschaftler und Publicist in Hamburg, gelesen von Armin Gro.
00:18:37: Die politische Meinung, neutral, geht gar nicht.
00:18:45: Ein Audio-Podcast der Konrad Adenauer Stiftung.