Hallo Algorithmus!

Shownotes

Annekathrin Kohout untersucht, wie TikTok-User den Algorithmus als mysteriöse, oft personifizierte Macht wahrnehmen, die über Sichtbarkeit, Reichweite und Erfolg entscheidet. Algorithmen funktionieren ähnlich wie Bürokratien: effizient, intransparent und schwer kontrollierbar. Nutzer passen ihr Verhalten strategisch an, optimieren Inhalte für die Maschine und entwickeln zugleich kreative Wege, Einschränkungen zu umgehen. Der Algorithmus wird so zur „Sozialfigur“, die Macht, Kontrolle, Chancen und Frustration symbolisiert. Kritische Medienmündigkeit erfordert, diese Systeme nicht nur humorvoll zu adressieren, sondern auch politisch und gesellschaftlich zu reflektieren.

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00:00:01: Hallo Algorithmos.

00:00:03: Mutmaßungen über ein Phantom.

00:00:05: Von Anne Katrin Kohut.

00:00:11: Eine Tiktok-Userin schaut entmutigt in die Kamera.

00:00:14: Über ihr Gesicht hat sie Hello Algorithmos, please send people like me to me, geschrieben.

00:00:20: Dieser Satz wirkt wie ein Gebet an den algoritmischen Gott, diese seltsam imaginäre Instanz, die entscheidet, ob ein Beitrag vielen angezeigt oder eine Schattenexistenz führen wird.

00:00:31: Solche Bitgebete sind längst zum Ritual geworden.

00:00:34: Diese Versuche der Kontaktaufnahme sind bezeichnend für das Verhältnis von Users und Creators zu Plattformen wie TikTok.

00:00:42: Der Algorithmus wird nicht als neutrale Instanz wahrgenommen, sondern als Akteur, mit dem man kommuniziert, gegen den man antritt, von dem man sich missverstanden fühlt, zudem man aber auch ein strategisches Verhältnis aufbaut.

00:00:56: Nutzer versuchen permanent, ihn zu begreifen, zu erklären und mit Bedeutung aufzuladen.

00:01:01: Sie schieben Misserfolge auf die Benachteiligung und führen Erfolge auf die Bevorzugung durch den Algorithmus zurück.

00:01:08: Doch er bleibt ein Phantom, dessen Funktionsweise nur teilweise durchschaubar ist.

00:01:13: Ist der Algorithmus womöglich eine neue Sozialfigur, die das Verhältnis zu dieser unberechenbaren allgegenwärtigen Macht reflektiert?

00:01:21: Algorithmen übernehmen zunehmend die Steuerung gesellschaftlicher und sozialer Prozesse.

00:01:26: Sie strukturieren, klassifizieren, bewerten und treffen Entscheidungen.

00:01:31: Während YouTube längst von Algorithmen dominiert sei, die Etabletekreatern bevorzugen und Instagram zur Influencer-Oligarchie verkomme, inszenieren TikToker ihre Plattform als Ort, an dem nicht mehr die Followerzahlen oder etablette Netzwerke, sondern allein die Qualität und Originalität der Inhalte darüber entscheiden, was Reichweite erhält.

00:01:52: Jeder kann viral gehen.

00:01:54: Diese Verheißung prägt die Selbstdarstellung von TikTok.

00:01:57: Ein fünfzehnjähriger Teenager aus der Provinz kann mit einem einzigen Video mehr Menschen erreichen als followerstärke und erfahrene Content Creator.

00:02:06: So zumindest die Erzählung, die Inwerbung, diversen Artikeln und natürlich in den Videos und Kommentaren der User kursiert.

00:02:14: Wenn von TikTok, dem Erfolg und der Einzigartigkeit der Plattform die Rede ist, dann ist vor allem von seinem Algorithmus die Rede.

00:02:22: Algorithmus und Bürokratie.

00:02:25: In seinem Essay Rule by Nobody hat der Autor Adam Clare die Implementierung von Algorithmen mit Bürokratie verglichen und treffende Parallelen zu Bürokratiekritik von Max Weber gezogen.

00:02:37: Ebenso wie Algorithmen basieren bürokratische Prozesse auf der Annahme, dass das individuelle menschliche Urteilsvermögen begrenzt, subjektiv und unzuverlässig ist, Mängel die zu fettern Wirtschaft vor Urteilen und in Effizienz führen.

00:02:52: Um dem entgegenzuwirken verfügt eine ideale Bürokratie laut Weber über ein klares Ziel, explizite schriftliche Verhaltensregeln und eine leistungsorientierte Hierarchie.

00:03:04: Diese Struktur konzentriert die Macht im Apparat und ermöglicht es Bürokratien unabhängig von den Personen, die verschiedene Rollen bekleiden, zu funktionieren.

00:03:13: Claire demonstriert, wie Algorithmen in ihrer Implementierung bürokratische Logiken reproduzieren.

00:03:19: Der TikTok-Algorithmus dient etwa der effizienten Bindung von Aufmerksamkeit und der Maximierung von Engagement.

00:03:27: Während sich das Unternehmen verändert und Mitarbeiter wechseln, bleibt der Algorithmus und formt mit seiner Logik die Kommunikation.

00:03:34: Inhalte werden so gestaltet, dass sie ihm entsprechen, sichtbar etwa in standardisierten Videoformaten, Hook-Strategien und algorithmisch optimierten Postingzeiten.

00:03:45: Sowohl Bürokratien als auch Algorithmen bekennen sich vordergründig zu Transparenz, werden jedoch im Namen der Wahrung ihrer Funktionalität immer undurchsichtiger.

00:03:55: Einmal vollständig etabliert gehört die Bürokratie zu den sozialen Strukturen, die am schwersten zu zerstören sind, heißt es bei Max Weber.

00:04:04: Aufgrund der Intransparenz lassen sich kaum konkrete Einwände formulieren.

00:04:08: So erscheinen Bürokratien und heute Algorithmen gegenüber Kritik und Veränderungen von außen unempfindlich.

00:04:15: Doch während klassische Bürokratien zumindest dem Anspruch nach demokratischer Kontrolle unterliegen, entziehen sich algoritmische Systeme weitgehend der politischen Gestaltung.

00:04:25: Sie sind flexibler und schaffen neue Formen der Macht, die weniger durch Wahlen legitimiert, noch durch Parlamente kontrolliert werden.

00:04:33: Nutzer haben mittlerweile teils bewusst, teils unbewusst gelernt, ihre Beiträge so zu gestalten, dass sie den vermuteten Präferenzen der Algorithmen entsprechen.

00:04:42: Das Gesicht wird nicht mehr gezeigt, weil man es zeigen will, sondern weil man weiß oder vermutet, dass Algorithmen Gesichter bevorzugen.

00:04:50: Bestimmte Wörter werden vermieden, weil sie als problematisch gelten könnten.

00:04:56: Diese Praktiken haben eine neue Form der Selbstdisziplinierung hervorgebracht.

00:05:01: Michael Foucault's panotopisches Prinzip, der Internalisierung der Überwachung, Selbstregierung stattzwang, findet in der algoritmischen Gesellschaft seine perfekte Umsetzung.

00:05:12: Es wird nicht mehr spontan gepostet, sondern strategisch.

00:05:16: Menschen zeigen sich nicht mehr, wie sie sind, sondern wie sie glauben, dass das System sie sehen will.

00:05:21: Sie analysieren ihre Insights, vergleichen ihre Reichweiten, experimentieren mit verschiedenen Postingsstrategien, kaufen Apps, die ihren Shadowband-Status überprüfen sollen.

00:05:31: Die Ironie ist offensichtlich.

00:05:33: In dem Versuch, präsent und relevant zu sein, werden Nutzer zu Marktforschern ihrer selbst.

00:05:38: Sie optimieren sich für Maschinen, die sie oft gar nicht verstehen, nach Kriterien, die sie nicht kennen, für ein Publikum, das sie nicht sehen können.

00:05:46: Was als Befreiung von den Zwängen traditioneller Medien begann, mündet in eine subtilere, aber umfassende Reform der Selbstkontrolle.

00:05:54: Doch diese Anpassung hat doch neue Formen der Subversion hervorgebracht.

00:05:58: Nutzer entwickeln kreative Strategien, um algorithmische Beschränkungen zu umgehen.

00:06:03: Sie verwenden Umschreibungen für problematische Begriffe.

00:06:11: Emojis als Platzhalter schreiben Wörter bewusst falsch, um Erkennungssysteme zu täuschen, spielen mit Ironie und Mehrdeutigkeit oder nutzen ihre Möglichkeit mit Likes und Kommentaren, also durch einen Beitrag an der Erhöhung von Engagement, an der Sichtbarkeit von Inhalten und Themen mitzuwirken.

00:06:29: Das Spiel mit dem Algorithmus kann also auch kreativ oder widerständig sein.

00:06:33: Hallo Algorithmus ist oft nicht nur eine Anbiederung, sondern auch eine überspitzte Parodie auf genau diese Anbiederung.

00:06:41: Man weiß, dass man sich dem System beugen muss und macht sich genau darüber lustig.

00:06:46: Besonders deutlich wird dies in PoV-Meams, wie PoV, wie der TikTok-Algorithmus bestimmt, ob du viral gehst, von etmeria.hny.

00:06:57: Für ihre fast onehundertzwanzigtausend Follower hat die Creatorin aus Berlin den Algorithmus als launischen Gesprächspartner inszeniert.

00:07:05: Euphorisch berichtet sie ihm in dem Video von ihrem gestrigen Erfolg eines ihrer Tiktoks.

00:07:10: Das fanden die Leute total lustig.

00:07:12: Der Algorithmus, ebenfalls von der Creatorin verkörpert, nickt gnädig ab, war wohl witzig.

00:07:19: Als sie jedoch ein ähnliches Video vorstellt, herrscht eisiges Schweigen.

00:07:23: Auf ihre verwirrte Nachfrage folgt die algorithmische Brutalität in Reinform.

00:07:27: Du, heute habe ich beschlossen, dass du einfach zweihundert Views bekommen wirst.

00:07:31: Einfach gar kein Bock, das den Leuten zu zeigen.

00:07:34: Ist leider heute echt nicht mehr drin.

00:07:37: In solchen Sketchen erinnert die Darstellung des Algorithmus von Tiktokern an die Darstellung Kafkaeza Bürokratie.

00:07:44: Eine omnipresente aber unverständliche willkürliche Macht, die über das Schicksal der Einzelnen entscheidet.

00:07:50: Wie Josef K. vor dem unzugänglichen Gericht steht, so stehen Creator vor der Black Box des Algorithmus.

00:07:57: Sie wissen, dass sie bewertet werden.

00:07:59: Verstehen aber die Kriterien nicht.

00:08:01: Sie vermuten Zusammenhänge, entwickeln abergläubische Rituale und bitten um Reichweitenknade.

00:08:07: Die Sozialfigur der unsichtbaren Macht.

00:08:11: Die Medienwissenschaftlerin Taína Bucher nennt diese spekulative Vorstellung vom Algorithmus Algorithmic Imaginary.

00:08:19: Sie beschreibt damit das gefühlte Wissen, dass User über algoritmische Funktionsweisen haben, ein Gemisch aus Intuition, Gerüchten, Erfahrung und Beobachtung.

00:08:29: Auch wenn TikTok seine Algorithmen weitgehend geheim hält, existieren in der Community nahezu mythische Erklärungen.

00:08:36: Die algoritmische Erfahrung ist von Effekten geprägt.

00:08:40: Sie erzeugt Frustration, Misstrauen, Sorge, aber auch Hoffnung.

00:08:44: Wenn ein Beitrag nicht gut performt, fühlen sich Nutzer übergangen, obwohl sie rational wissen, obwohl sie rational wissen, dass der Algorithmus nicht willentlich handelt oder sie fühlen sich zu stark überwacht.

00:09:03: Fragt eine Userin und artikuliert damit das weit verbreitete Gefühl einer unheimlichen Präsenz, die mehr über einen weiß als man selbst preisgegeben hat.

00:09:13: Fast immer wird der Algorithmus personifiziert, mehr so beschrieben, als habe er eine Persönlichkeit.

00:09:19: Er entscheidet, bestraft, belohnt, liebt Authentizität, versteht einen nicht mehr.

00:09:25: TikTok-User sprechen oft vom Algorithmus, als sei er ein exzentrisches Gegenüber.

00:09:31: Es scheint also ein starkes Bedürfnis zu geben, seine Komplexität zu vereinfachen, indem man ihn zur Figur macht, psychologisiert.

00:09:39: So lässt sich der Algorithmus auch leicht als Sozialfigur beschreiben.

00:09:43: Sozialfiguren sind ein Werkzeug, um denjenigen Fragen nachzugehen, die der Gegenwartgesellschaft unter den Nägeln brennen.

00:09:50: Mit Sozialfiguren verhandelt eine Gesellschaft den Zeitgeist.

00:09:54: Oft artikulieren sich darin krisenhafte Erfahrungen, auf die es noch keine endgültigen Antworten gibt.

00:10:00: Der Algorithmus verkörpert als Sozialfigur zunächst die charakteristische Machtform der digitalen Gesellschaft, die nicht autoritär, sondern distributiv und effektiv wirkt.

00:10:11: Die Sozialfigur des Algorithmus steht für die Verinnerlichung von Reaktions- und Bewertungssystemen und für die Rolle von Plattformen als strukturierende Instanzen soziale Beziehungen.

00:10:22: In der Rede vom Algorithmus verdichtet sich das Verhältnis der User zur Sichtbarkeit, Aufmerksamkeit, Selbstoptimierung, aber auch zur Gerechtigkeit und Anerkennung.

00:10:32: Der Algorithmus ist zugleich ein Gegner, Zensur, Einschränkung und ein Verbündeter, Viralität, demokratisierte Kommunikation.

00:10:41: Diese Ambivalenz macht ihn als Sozialfigur besonders interessant und erklärt, warum er in digitalen Alltagsdiskursen so oft auftaucht.

00:10:55: Gerade weil der Algorithmus so diffus bleibt, eignet er sich ideal als Projektionsfläche für die Widersprüche einer digitalisierten Gesellschaft.

00:11:04: Er wird personalisiert, versportet, verklärt und zugleich gefürchtet.

00:11:09: Als Sozialfigur erlaubt er es über neue Formen von Macht, Ungleichheit und Kontrolle zu sprechen, ohne diese immer schon exakt benennen zu müssen.

00:11:18: Die Ironie, mit der sie adressiert werden, kann entlastend wirken, aber auch endpolitisierend.

00:11:24: Deshalb ist es notwendig, den Algorithmus nicht nur als Phantom zu behandeln, sondern als reale Infrastruktur zu verstehen, die mitentscheidet, wer gesehen, gehört und anerkannt wird.

00:11:36: Denn die Entwicklung einer Medienmündigkeit in Hinblick auf Algorithmen erfordert nicht nur die kritisch-ironische Auseinandersetzung mit den Systemen, sondern auch politische Anstrengungen für deren demokratische Kontrolle.

00:11:48: oder wie eine Tiktokerin es ausdrückt.

00:11:58: In diesem Kampf spielerisch frustriert jedoch nicht gleichgültig, artikuliert sich der Wunsch nach Handlungsfähigkeit in einer von Algorithmen geprägten Welt.

00:12:08: Es ist ein ganz alltäglicher Kampf, der aber symptomatisch für die politische gesellschaftliche Gegenwart ist.

00:12:17: Anne-Kathrin Kohut, geboren in Gäher, Kultur- und Medienwissenschaftlerin, freie Autoren zur Popkultur, Internet-Phänomenen und Kunst, seit den Betreibern des Blogs sofrischsogut.com mit Herausgeberinnen und Redakteuren der Zeitschrift Popkultur und Kritik sowie der Buchreihe Digitale Bildkulturen.

00:12:47: Neutral geht gar nicht.

00:12:53: Ein Audio-Podcast der Konrad Adenauer Stiftung.